Blog - Geschichten aus Wiepersdorf

Stipendiat*innen der Kulturstiftung veröffentlichen wahre oder fiktive Geschichten über Erlebnisse, Erfahrungen und Gedanken während ihres Stipendiums in Schloss Wiepersdorf.

© KSW

Galit Dahan Carlibach | veröffentlicht am 10.09.2024

Altstadt von Jüterbog © A.Savin, Wikipedia

Von all den Wölfen, Hunden, Schakalen, Schlangen, Rehen und Nachtraubvögeln, die es in Wiepersdorf gibt, zog eine Kreatur unsere Aufmerksamkeit am meisten auf sich und weckte unsere unmittelbare Besorgnis. Es handelte sich um eine bestimmte Zeckenart, und wir wären völlig ahnungslos gewesen, hätte uns nicht eine Berlinerin mit kurzen Haaren auf dieses Problem hingewiesen.

„Ach du meine Güte, was sollen wir jetzt machen?“, fragte Shachar.

„Es muss doch irgendeine Möglichkeit geben, diese Zecke loszuwerden“, sagte ich. „Und überhaupt, warum sollte sich diese Zecke ausgerechnet an uns heften, unter all den Menschen, die hier seit Tausenden von Jahren leben?“

„Es ist sehr schwer, eine Zecke zu bemerken, und dann kann sich eine sehr schlimme Infektion entwickeln“, mischte sich die kurzhaarige Berlinerin in unser Gespräch ein und schickte gleich eine beruhigende Botschaft hinterher: „Aber ich kenne einige Leute, die ganz gut mit einer Nekrose leben.“

„Okay“, sagte mir Shachar im Speisesaal sehr leise auf Hebräisch. „Wir klären diese Sache jetzt sofort. Wo gehst du hin?“

„Ich mache mir einen Tee mit Milch.“

„Du kannst dir doch keinen Tee mit Milch machen, wenn wir vom Aussterben bedroht sind!“

Zum Glück spürte die für unser körperliches und seelisches Wohlbefinden Verantwortliche, dass wir in großer Not waren, und sagte, es gäbe eine Lösung. Ein sehr spezielles deutsches Patent, eine Art ausgeklügeltes Gerät, mit dem man die Zecke im Handumdrehen entfernen kann. Shachar strahlte und ich fragte: „Wo kann man dieses Gerät kaufen?“

„Oh, in Jüterbog, der nächstgelegenen Stadt. Ich bestelle sofort einen Bus für euch.“ Darauf folgte ein Schwall von Anweisungen und Erklärungen: wie man zur Apotheke kommt, in welchem wunderbaren Restaurant man speisen sollte, wo sich die St.-Nikolai-Kirche befindet und natürlich der Supermarkt. Wir bekamen einen Stadtplan, einen Kompass und wurden gewarnt, ja nicht den Bus zu verpassen. Nach einer etwa viertelstündigen Fahrt brummte der Fahrer und zeigte auf das Fenster.

Wir schauten hinaus, und da erblickten wir die Hauptstraße von Kiryat Bialik.

„Vielleicht hat er einen Platten?“ fragte ich.

„Nein, nein“, sagte Shachar, „wir sind in Jüterbog angekommen, na komm schon!“

Wir begriffen direkt, dass Kiryat Bialik eine Metropole wie Moskau ist im Vergleich zu Jüterbog. Innerhalb von drei Minuten besuchten wir alle wichtigen Sehenswürdigkeiten der Stadt – den Supermarkt, ein Bekleidungsgeschäft aus den Achtzigern und eine Würstchenbude. „Ich glaube, es ist Zeit, zur Apotheke zu gehen“, sagte Shachar und blickte auf seine Uhr. „Hoffentlich gibt es dort eine Schlange. Was sollen wir hier sonst machen, bis der Bus um vier kommt?“

Wir waren die einzigen in der Apotheke. Zwei freundliche Damen stürzten sich auf uns – natürlich mit deutscher Höflichkeit. Auch sie sprachen kein Englisch, aber Shachar und ich hatten mittlerweile eine ausgefeilte Mimik und Gestik entwickelt. Wir zeigten, zwinkerten, formten unsere Lippen, flatterten mit den Wimpern. Währenddessen ging eine der Apothekerinnen nach hinten, und mit meinen eigenen Ohren hörte ich das Wort „Polizei“.

„Google Translate“, flüsterte mir Shachar zu. „Schnell, bevor sie uns ins Gefängnis von Wilhelm dem Zweiten stecken.“

Wir zeigten der Apothekerin das Handy. „Ja, ja, Zecke.“ Die zweite Apothekerin verzichtete auf den Anruf bei der Polizei. Beide begannen, einige Schubladen zu öffnen.

„Oh, ich hoffe, wir haben genug Platz für das Gerät“, sagte Shachar und machte seinen 23-Kilogramm-Koffer weit auf.

Die Apothekerinnen kamen zurück und präsentierten uns eine geschlossene Faust.

„Was ist das?“ riefen wir gleichzeitig.

„Ich glaub’s nicht“, sagte Shachar.

„Da gibt’s bestimmt ein Patent drauf, das kannst du nicht kopieren“, warnte ich. „Wie schön. Ein Meisterwerk des preußischen Reichs!“

„Gibt es ein Problem?“ fragte die Apothekerin betrübt und blickte zu ihrer Kollegin.

„Nein, nein, alles gut“, sagte ich mit letzter Kraft und schaute Shachar an. „Na, jetzt zahlst du für diesen Unsinn, ich habe davon Millionen im Zimmer.“

Shachar holte sein Portemonnaie hervor und zahlte, dann steckte er die Pinzette in den riesigen Koffer. Die beiden Apothekerinnen tauschten Blicke aus und warteten darauf, dass wir endlich gingen, damit sie sich vor Lachen ausschütten und über uns tratschen konnten. Inzwischen hatten alle Bewohner von Jüterbog die Warnung erhalten, in ihren Häusern zu bleiben: „Achtung: Zwei Fremde ziehen durch unsere Hauptstadt und schleppen einen riesigen Koffer mit sich, in dem sich ein ausgeklügeltes Zeckenentfernungsgerät versteckt.“

------

Galit Dahan Carlibach ist in Sderot, Ashdod und Jerusalem geboren und aufgewachsen. Sie veröffentlichte acht Bücher (darunter Romane, Novellen und Fantasy für junge Leser*innen). Ihr neuester Roman "Under The Sign Of Orphan" soll 2025 auf Deutsch im Verlag Kein & Aber erscheinen. Dahan Carlibach ist Dozentin der Schreibkurse an der Bar Ilan Universität. Sie lebt in Jerusalem und ist Mutter von zwei Kindern.