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Interview mit Heidi Sill

'Ich zeichne, um etwas freizulegen'

Die Berliner Künstlerin Heidi Sill produziert Tuschezeichnungen, Collagen und Installationen. Die diesjährige Stipendiatin der Kulturstiftung Schloss Wiepersdorf wurde 1963 in Fürth/Bayern geboren und studierte an der Kunstakademie in Nürnberg und dem Institut des Hautes Etudes en Arts Plastiques in Paris. Nach mehreren Jahren in Paris lebt Sill seit 2003 in Berlin. Die Künstlerin hat sich in verschiedenen Kontexten aktiv für die sozialen Belange von Künstler*innen eingesetzt, so etwa in der Initiative Haben und Brauchen oder dem berufsverband bildender künstler*innen – bbk berlin in dessen Vorstand sie aktuell als Sprecherin tätig ist. Anfang Juni sprachen der Berliner Kunstkritiker Kito Nedo und Sill über die Bedeutsamkeit von Oberflächen für ihr künstlerisches Werk, Gemeinsamkeiten von Hanna Wilke, Carolee Schneemann und Bettina von Arnim sowie die Auswirkungen der Coronakrise auf die Kunstszene.

Heidi Sill, im Rahmen des Stipendiums der Kulturstiftung Schloss Wiepersdorf setzen Sie ihre Serie 'Vorbilder weiblicher Transgression' fort. Wo liegen die Anfänge dieser Serie?

Die Serie hat ihren Ursprung in meiner Beschäftigung mit medialen Bildern, wie man sie etwa in Zeitschriften oder im Netz findet. Die Auseinandersetzung mit der Oberfläche steckt aber in allen meiner Arbeiten. Oberflächen sind Grenzflächen. Sie liefern den Blick auf das Darunterliegende als Interpretationsfläche gleich mit und verweisen damit auch auf etwas Abwesendes. Dieser duale Charakter der Oberfläche gleicht einer Art Maske.

Inwiefern?

Das Verborgene wird als interessant eingestuft, weil das vermeintlich ‚Tiefe‘ gebraucht wird, um das ‚Ganze‘ betrachten zu können. Bereits Goethe sagte: „Die menschliche Gestalt kann nicht bloß durch das Beschauen ihrer Oberfläche begriffen werden, man muss ihr Inneres entblößen.“ In dieser Denktradition heißt das auch: Die Schale wird zertrümmert, um an den Kern zu kommen. Der Medienphilosoph Vilém Flusser hingegen veröffentlichte in den Achtzigern ein Lob der Oberflächlichkeit in dem er in Hinsicht auf die Bildschirm-Medien die Manifestation aller wesentlichen Informationen bereits auf der Oberfläche feststellt. Dieses Spannungsfeld in der Auseinandersetzung mit dem Thema ist für meine Arbeit zentral.

Der Begriff ‚Transgression‘ lässt sich unter anderem als ‚Überschreitung‘ übersetzen. Zielen Sie damit sowohl auf die Form als auch auf den Inhalt?

Mit diesen Zeichnungen stelle ich Frauen in Mittelpunkt, deren Lebensläufe, Brüche, Provokationen und Übertretungen aufzeigen. Es sind Frauen, die mich aufgrund ihrer künstlerischen Arbeit oder als Personen interessieren. Anders als bei den Collagen benutze ich keinen Cutter, sondern einen Stift, der dennoch dazu dient, etwas freizulegen. Hinter den von mir gezeichneten Gesichtern werden Formen sichtbar, die stark an Muskelstränge erinnern, aber keineswegs anatomischen Gesetzen folgen. Dennoch haftet diesen Zeichnungen eine bestimmte körperliche Härte an, weil man beim Betrachten doch an Haut und darunterliegendes Gewebe denkt.

Das spekulative Spiel setzt sich in den Bildtiteln fort.

Die Zeichnungen basieren auf realen Vorlagen. Aber es soll auch auf der spekulativen Ebene funktionieren. Hannah etwa nimmt Bezug auf die feministische Künstlerin Hanna Wilke. Für ihre Performances benutzte Wilke ihren eigenen Körper und setzte Kaugummi als Material ein. Das sieht man auch bei dieser Zeichnung. Die Kügelchen wirken wie Geschwüre auf dem Gesicht. Mit Kaugummi als Material hat sie eine ganze Serie von Selbstportraits produziert, in der sie bestimmte Klischees von Frauen nachstellt: Cowgirl oder Model. Ein anderes Bild bezieht sich auf Carolee Schneemann, die in ihren Performances die gesellschaftlichen Diskurse über Körperlichkeit, Sexualität und Geschlechterrollen thematisierte.

Aus der Serie Vorbilder weiblicher Transgression von Heidi Sill: Carolee (2012); Hannah (2008); Hannah 2 (2014)

Schneemann und Wilke sind moderne, zeitgenössische Figuren. Bettina von Arnim gilt hingegen als Vertreterin der Romantik. Was interessiert Sie an dieser Schriftstellerin und Komponistin?

Bettina von Arnim war sehr an gesellschaftspolitischen Fragen interessiert und mischte sich ganz selbstverständlich in öffentliche Debatten ein. So kämpfte sie etwa gegen Antisemitismus und setzte sich für die Abschaffung der Todesstrafe ein. Die soziale Gerechtigkeit und die politische Gleichstellung der Frauen waren ihre Anliegen. Das war zu ihrer Zeit nicht nur ungewöhnlich, sondern geradezu revolutionär. 1835, drei Jahre nach Goethes Tod erschien ihr Debüt Goethes Briefwechsel mit einem Kinde. Für diesen Briefroman griff sie einerseits auf ihren tatsächlichen Briefwechsel mit Goethe zurück, bediente sich aber auch der romantischen Poetik. Das führte zu Fälschungsvorwürfen gegen sie. All diese Dinge fand ich sehr interessant. Insofern ist Bettina von Arnim eine Frau, die in meine Reihe passt.

Aufgrund der Corona-Pandemie ist 2020 alles anders. Wie sieht Ihr Alltag als Wiepersdorf-Stipendiatin konkret aus?

Ursprünglich hatte ich vor, mich in der Schloss-Bibliothek intensiv mit dem Werk Bettina von Arnims auseinanderzusetzen und dort vor Ort nach Bildern und Texten zu suchen.  Dies ist aufgrund der gegenwärtigen Lage leider so nicht machbar. Die Begegnung mit den anderen Stipendiatinnen aus verschiedenen Bereichen ist in den virtuellen Raum verlegt worden. Dort tauschen wir uns in Zoom-Konferenzen aus. Aber natürlich fehlt die unmittelbare, auch körperliche Kommunikation, die entsteht, wenn man wirklich drei Monate jeden Tag zusammensitzt, miteinander isst und im Garten sitzt. Das wäre sicher etwas anderes als unsere jetzigen Begegnungen im Netz.

Seit 2016 sind Sie Co-Sprecherin des Vorstands des berufsverbands bildender künstler*innen berlin (bbk berlin), der rund 2.400 Mitglieder zählt. Welche Auswirkungen hat die Coronakrise auf die Kunstszene generell?

Die Kultur- und Kunstszene wird gerade hart getroffen: Alle Ausstellungen wurden zunächst geschlossen, vieles verschoben oder ganz abgesagt. Seit Anfang März beschäftigen wir uns damit, wie wir den Künstler*innen helfen können, etwa durch intensive Lobbyarbeit bei der Politik. Das hat sicherlich mit dazu beigetragen, dass es in Berlin eine frühe und unbürokratische Soforthilfe für Künstler*innen gab.

Mittlerweile sind viele Ausstellungen wieder geöffnet

Das stimmt, aber es gibt keine Vernissagen mehr. Da fehlt natürlich die direkte Kommunikation, der Austausch und Diskurs, den man braucht. Längerfristig liegen viele Projekte auf Eis. Bis man wieder ins Theater gehen kann oder bis man wieder Ausstellungen machen kann wie früher wird es gewiss noch einige Zeit dauern. Jetzt gilt es zu verhindern, dass Kunst und Kultur auf das Abstellgleis geraten, etwa indem freiberufliche Künstler*innen aufgrund fehlender Bundes-Hilfsprogramme in die Sozialfürsorge, sprich Hartz IV geschickt werden. Da müssen wir natürlich auch weiterhin helfen und der Kunst den Rücken stärken.

 

Das Interview führte Kito Nedo im Auftrag der Kulturstiftung Schloss Wiepersdorf im Rahmen der ‚Virtual Residency 2020‘.

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