Blog - Geschichten aus Wiepersdorf

Stipendiat:innen der Kulturstiftung veröffentlichen wahre oder fiktive Geschichten über Erlebnisse, Erfahrungen und Gedanken während ihres Stipendiums in Schloss Wiepersdorf.

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Jakob Kraner | veröffentlicht am 07.02.2025

Bahnhof Jüterbog © Jakob Kraner

KÜNSTLICHE PSYCHOSE

Die Maler:innen konnten sich schwerer verstecken als wir Schreibende. Das Atelierhaus war in angenehmer Spazierentfernung vom Haupthaus, vorbei an der Orangerie und an Nuras Pferdekoppel. Und da im Atelierhaus hingen ihre Sachen einfach so an der Wand. Wir konnten also reinspazieren, freundlich nicken und schauen, was sie zustande brachten oder nicht, heimlich die Pinselstriche zählen, die seit dem letzten Besuch dazugekommen waren und dann entscheiden, ob wir beruhigt waren, weil sie ebenso kämpften wie wir und die Kunst also an sich eine mühsame Sache ist, oder ob wir, angesichts der Leistungen der anderen, uns selbst in Zweifel ziehen und am besten eigentlich alles aufgeben sollten.

Wir Schreibende hielten uns bedeckt. Niemand starrte uns auf den Laptop. Wir sprachen viel über das Große und Allgemeine, die Grundprinzipien der Literatur usw., aber wenn es ums konkrete Werk ging, an dem wir saßen, und über unser Vorankommen, dann waren es Gespräche wie übers Wetter: Gestern sei es gut gewesen, heute ja leider gar nicht gut. Generell immer am Vormittag besser und am Abend schlechter. Oder: Genau umgekehrt. Oder: Es sei gerade „eine schwierige Phase“. Oder: Heute sei ja den ganzen Tag gar nichts passiert. Morgen aber, morgen müsse endlich was passieren. Oder: Am Wochenende habe es einen Umschwung gegeben und seitdem sei alles sehr verändert. Oder in meinem Fall meistens: Man sei des Schreibens wegen etwas unpässlich, es nehme einen irgendwie mit, man nehme also lieber erstmal ein Bad.

Direkten Einblick in einen literarischen Schaffensprozess bekam ich aber im zwanzig Minuten entfernten Bahnhof von Jüterbog. „Thomas to Go“ – der Schriftzug mit stilisierten dampfenden Kaffeetassen prangt am abblätternden Verputz des Bahnhofsgebäudes. Gleich daneben ein Banner der CDU-Ortsgruppe. „Thomas to Go“ – das war das Erste, was mir bei meiner Ankunft aufgefallen war. „Thomas to Go“ war in meiner ersten Woche am Schloss eine Art Sehnsuchtsort. Meine Kindheit und den größten Teil meiner Jugend verbrachte ich in einem kleinen österreichischen Dorf am Waldrand, wo etwa 50 Menschen leben. Nicht trotzdem, sondern deshalb war ich vor Antritt meiner Residency im abgelegenen Wiepersdorf nicht nur freudig erregt, sondern auch einigermaßen nervös. „Thomas to Go“ klang nach einer exotischen Verheißung, wo ich – wenn Leere und Einsamkeit zu groß und der Elfenbeinturm zu eng würden – inkognito beim Kaffee sitzen und die echte brandenburgische Bevölkerung beobachten könnte.

Dass es sich bei „Thomas to Go“ – wie der Name ja nahelegt – bloß um einen kahlen Raum mit Getränkeautomaten handelt, sollte ich am zweiten Wochenende meines Aufenthalts feststellen. Ich war für einen Kurzausflug am Weg nach Berlin. Die Rufbusfahrt teilte ich mir zufällig mit der fürs Schloss arbeitenden S. Während die Windräder an uns vorbeizogen, sprachen wir über Japan und Lyrik. Nun sind wir am Bahnhof, und ich lasse S vorausgehen, um unser Abfahrtsgleis zu suchen, und hole Kaffee bei „Thomas to Go“. Ein Mann kommt auf mich zu. Ich nenne ihn den Hippie. Er hat einen halben Joint im Mund, einen Rucksack und führt eine Art verzierten Spazierstock mit sich. Ob ich Geld wechseln könne. Ich kann es nicht, gebe ihm stattdessen zwei Euro. Er freut sich sehr. Ich suche S.

Inmitten des alltäglichen DB-Dramas – Menschentrauben wabern von Bahnsteig zu Bahnsteig, lesen die digitalen Anzeigen, wo sich die Ereignisse überschlagen, und tüfteln an der besten Strategie fürs Vorankommen – treffe ich den Hippie wieder. Er hockt am Bahnsteigpflaster und schreibt ein Buch. Freihändig, während er Zigaretten dreht, entwickelt er seinen Stoff im Ping Pong mit der künstlichen Intelligenz. Die KI und der Hippie schreien sich gegenseitig Einfälle zu, durchbrochen von den minütlichen Durchsagen über Zugausfälle und Verspätungen. „Eichhörnchen tanzen mit Open AI auf der Lichtung …“ – die KI liest vor, was bisher entstanden ist. „Schlag mal japanische Hundenamen vor“, unterbricht der Hippie die Probelesung. Die DB-Stimme übertönt den Dialog und ich steige erst später wieder ein: „Ja, lass uns noch phantastischere Sachen erfinden“, antwortet die Intelligenz in ihrer nervtötend ewig positiv gestimmten Art.

Ich frage mich, ob eine KI begreift, mit welchem Gegenüber sie es zu tun hat. Ist die KI-Freundlichkeit am Ende dieselbe diplomatisch-aufmerksame Schauspielerei, mit der vernünftige Normalos wie ich auf der Straße den offensichtlich Psychotischen oder Schizophrenen begegnen? Mitspielen, sanft bleiben, das Gegenüber in seiner Welt lassen und nicht übermäßig irritieren, es interessant finden, Mitgefühl haben. Sind wir im Vergleich zur KI etwa alle mehr oder minder beschädigt und wahnsinnig, und deshalb verhält sie sich immer so aalglatt und widerspruchslos?

„Mach mal Storytelling im Stil von Michael Ende mit IKA, BKA“, sagt der Hippie. Leider konnte ich nicht verifizieren, was mit IKA gemeint sein könnte. Das Institut für Kraftfahrwesen Aachen? Die Internationale Kochkunst-Ausstellung? Viele der Prompts sind noch enigmatischer: „Geh mal in mich rein. Ist offen! Hexenmeister bin ich.“

Ich erinnere mich an den Hype der digitalen Bilderkennung mit neuronalen Netzen vor etwa zehn Jahren. Forscher:innen kamen auf die grandiose Idee, die virtuellen Nervenbündel auf eine Art digitales LSD zu setzen, also zu überreizen, zur Überinterpretation anzuregen und ausgeben zu lassen, was sie erkennen. In gleichförmigen Graslandschaften oder bewölktem blauen Himmel sahen sie die wildesten Dinge: Fische mit Hundegesicht oder Schweine mit einem Schneckenhaus am Rücken. Die Bilder kamen den LSD-Visionen H.R. Gigers oder den Artworks in den Platten von Emerson, Lake & Palmer ziemlich nahe. Kann eine KI psychotisch werden? Kann eine psychotische Person sie psychotisch machen, wenn sie sie in seine Welt miteinbezieht?

Der RE4 fährt ein. Der Hippie kommt hinter mir zu sitzen. S klappt den Laptop auf und versucht zu arbeiten. Der Hippie ruft als letzten Akt noch die Frage ins Handy, wieso die Deutsche Bahn nicht flächendeckend Internet in den Zügen ausrollt, doch da hat sich die KI schon in den Äther zurückgezogen und wird bis zur Berliner Stadtgrenze nicht zurückkehren. Das war es mit den Einblicken ins Buch.

„Brems doch mal zärtlicher, lass dich besser bezahlen. Oder streike!“, ruft der Hippie in Fahrtrichtung nach vorne, als eine Glasflasche vom Tischchen in den Gang fällt. „Das kann man nicht sagen, Joe“, fährt er fort und jetzt begreife ich endlich, wer dieser Joe ist, der in den Monologen des Hippies immer wieder auftaucht. Es ist der verzierte Stock. Beim Blick über die Schulter erkenne ich eine am Holz befestigte Sonnenbrille und knapp darunter, ein zur Krawatte geknüpftes Kopfhörerkabel. „Das kann man nicht sagen. Das heißt Trisomie 21, Joe, die hauen dir auf die Fresse. Wenn wir nach England gehen, dann bringt uns Harry Potter um.“

Eine Jugendliche geht durch den Waggon, versucht durchzukommen, doch kommt neben unserem Platz zum Stehen. Joe blockiert den Gang. Der Hippie stellt ihn vor: „Das ist Joe.“ Die Jugendliche sagt darauf das einzig Richtige: „Wo ist seine Nase?“ „Frag Michael Jackson“, antwortet der Hippie, „hat er geklaut!“ „Ich muss mit dem abhängen“, beschwert er sich bei der aufmerksam nickenden Passantin, „keiner will mit dem abhängen. Die scheiß Punker wollen dem eine aufs Maul hauen, die hassen ihn, der frisst ihnen immer das Essen weg.“

„Berlin-Lichterfelde Ost“, sagt der Lautsprecher. Joe lässt die Jugendliche vorbei. Kurze Stille. „Du musstest früher anschaffen gehen, im Bahnhof Zoo“, so der Hippie zu Joe, nachdenklich, und dann besorgt: „Du hast einen Ruf, Alter! Wenn das Kinder sehen!“

„Berlin Südkreuz.“ S klappt ihren Laptop zu, wir steigen mitsamt Joe und dem Hippie aus, fahren die Rolltreppe hinauf. S deutet auf eine S-Bahn, die mit offenen Türen dasteht, mit der käme ich zur Hermannstraße. Ich winke, laufe und springe durch die schon piepsende Tür.

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Jakob Kraner lebt in Wien. Er studierte Philosophie an der Uni Wien und Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Er schreibt Prosa, Essays und dramatische Texte, macht Lesungen, Literaturperformances und Musik. 2022 erschien sein Buchdebüt „Kosmologie“ in der Reihe „Rohstoff“ bei Matthes & Seitz Berlin.

 

Konrad H. Roenne | veröffentlicht am 02.12.2024

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Kurzes Poem über jene, die auf der Suche sind

Denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, steht bei Jeremia, Kapitel 29, Vers 13 bis 14, Lutherübersetzung, und was soll man sagen: Recht hamse natürlich, die ollen Propheten des Tanach beziehungsweise Alten Testaments, immerhin wurden sie von Gott berufen! Und wer weiß, vielleicht saßen Satoru Iwata von der Nintendo K.K., Tsunekazu Ishihara von The Pokémon Company und Dennis Hwang von Niantic, Inc., eines Tages zusammen und beugten sich über das Buch Jeremia, ja, lasen es sogar – zuzutrauen wäre es ihnen –, oder jeder für sich allein, denn immerhin arbeitete Dennis Hwang von San Francisco aus, während Satoru Iwata in Kyoto und Tsunekazu Ishihara in Tokio angestellt waren, zumindest an jenem 13. Juli des Jahres 2016, als in der Bundesrepublik Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, in Österreich und in Polen das Spiel „Pokémon Go“ für Tablets und Smartphones mit den Betriebssystemen Android und iOS veröffentlicht wurde – eine Woche nach Neuseeland, Australien und den Vereinigten Staaten von Amerika, aber neun Tage früher als Japan, das erst am 22. Juli an der Reihe war.

Und es ist ein Junge, der da wandelt durch den hiesigen Schlosspark; kein Irren, sondern ein Suchen und ein Finden. Mit luftigen Crocs an den Füßen schreitet er die Wege ab und bleibt plötzlich stehen, schüttelt zornig den Kopf und schimpft: leise und unverständlich; graue Baumwolltrainingsjacke mit Kapuze, Basecap tief ins Gesicht gezogen, auf seiner schwarzen Trainingshose prangt eine große, weiße „83“ und dazu noch: „ORIGINAL“ – was hat das zu bedeuten, der achte und der dritte Buchstabe des Alphabets: HC, HardCore, Original Hardcore?
Und grüßt du ihn, so schaut er dich verärgert an, zu Recht; er ist der Herr von Wiepersdorf. Wenn es dunkel wird im Schlosspark und auf der Welt, dann beleuchtet das Smartphone-Display das Gesicht des Jungen: zarter, blonder Pflaum am Kinn und unter der Nase beziehungsweise über den Lippen.

Der Geist der Romantik – der späten allerdings – schaut um die Ecke: überall Phantasiewesen, Pokémons, die der Junge mit dem Smartphone suchen und anschließend einfangen muss; über eintausend verschiedene dieser Gestalten gibt es auf der ganzen Welt, aber jeweils in Potenz, von Arceus über Folipurba und Ibitak bis zu Zwirrklop – der Server setzt sie per Zufallsprinzip in die virtuelle Landkarte des Spiels ein. Sie haben einen bevorzugten Lebensraum in den unterschiedlichen Regionen, etwa im Niederen Fläming, und oftmals an stark frequentierten Plätzen – wir haben der Bettina und dem Achim zu danken dafür und der Stiftung natürlich auch! Wasserpokémons verweilen gern in Gewässernähe, klar!, das würde für den Teich des Schlossparks sprechen. Und außerdem sind da die Nester: man findet sie in öffentlichen Gärten und Parks, hier hält sich ein ganz bestimmtes Pokémon über einen Zeitraum von zwei Wochen besonders regelmäßig auf, leichte Beute also. Ganz sicher kommt der Junge deswegen immer wieder hierher; vielleicht aber auch, weil es beim Schloss einen Pokéstop oder eine Arena gibt oder das hiesige WLAN irgendeinen Standortvorteil bietet, oder läuft er die Wege des Schlossparks so vehement ab, um durch das Zurücklegen von zwei, fünf oder sieben Kilometern Pokémon-Eier auszubrüten, mithilfe von Brutmaschinen? Die App zählt die Bewegung, aber bitte nicht hetzen!, nur gemächliches Gehen gilt, und im Vergleich zu den wilden Fängen haben die Pokémons, die aus diesen Eiern schlüpfen, ziemlich gute Basiswerte …
Du wirst es nie erfahren, denn er spricht nicht mit dir, er ist auf der Suche und du bist es nicht. Warum sollte man da stören?

Einmal ist er mit seinem Vater unterwegs oder seinem großen Bruder oder einem Onkel, ganz sicher: ein männlicher Verwandter ersten, zweiten oder dritten Grades, die Ähnlichkeit frappierend. Die taktische Besprechung vollziehen sie im Gehen, während sie auf ihre Smartphones schauen: Da oder da lang? – Da. – Hm.
Daumen drücken. Holt sie euch!

Und manchmal ist da eine Katze, schwarz-weiß gefleckt wie eine Kuh beziehungsweise ein Rind; sie versteckt sich in den Beeten, sie läuft in der Dämmerung aufreizend lässig über die Wiese vor dem Haupteingang des Schlosses und ist ebenfalls auf der Suche: nach dem Geist der Romantik, nach virtuell verborgenen Phantasiewesen eines japanischen Videospieleherstellers oder dem lieben Gott?
Sie habe es auf Mäuse und Maulwürfe, auf Kohl- und Blaumeisen und Rotkehlchen und auch mal eine geschwächte Taube abgesehen, verrät sie dir.
Sie sagt: Und habe ich sie gefunden, so befördere ich sie ins Jenseits, miau.

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Konrad H. Roenne, geboren 1979 in Rüdersdorf bei Berlin, ist Vater von zwei Töchtern. Nach Zivildienst und Studium in Berlin arbeitete er beim Vice-Magazin und in einer Einrichtung für psychisch Erkrankte. 2022 debütierte er mit dem Roman Hoch Mittag. Roenne wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Alfred-Döblin-Stipendium.

 

Matthias Nawrat | veröffentlicht am 24.10.2024

© privat

Das Gebiss des Schlosses Wiepersdorf

Es war ein normaler Abend auf dem Schloss. Roland erwartete nichts Besonderes, als er nach der Arbeit des Tages das Fenster öffnete und hinausblickte. Der Wald lag ruhig da, die Rauchsäulen stiegen über den Wipfeln schnurgerade in den brandenburgischen Himmel, die Skulpturenreiniger im Park reinigten die Skulpturen im Park. Nur die Steinpilze waren noch näher an die Wünsche und Ängste der Schlossbewohner herangerückt als am Tag zuvor.

Die Bewohnerinnen und Bewohner des Schlosses kamen pünktlich um sieben Uhr zum Abendessen hinunter. Manche subtiler, andere etwas expliziter – sie kündigten ihr Kommen schon vor ihren Zimmertüren im Flur in der ersten Etage an, damit keine Zweifel bestünden. Einige trugen dieselbe Kleidung, in der sie angereist waren, andere hatten sich extra in Schale geworfen – sie wussten, sie würden ohnehin länger bleiben und gaben sich Mühe, auf dem Schloss ein echtes, neues Leben zu beginnen. Ein Kragen war keine Seltenheit. Von dem einen oder anderen Kleidungsstück stieg Roland sogar der Duft des Waschmittels aus dem Waschraum im Nebenhaus in die Nase – eine Erinnerung an die Welt der Supermärkte und Lebensentscheidungen dort draußen, die alle letztendlich irgendwann wieder erwartete, jetzt aber Gott sei Dank noch nicht.

Was gibt es heute?, fragte Jonatan Kunz, der stets als erster unten saß und wie immer nur in Socken erschienen war.
Bestimmt Spinat, sagte Maria Roxana Espinoza Laikanen, die auch „die Heilige“ genannt wurde, da sie die schönsten Flüche in ihrer Muttersprache Finnisch kannte und durchaus auch stets bereit war, sie in Anwendung zu bringen.
Der folgende Dialog entspann sich zwischen den Schlossbewohnerinnen und -bewohnern, die nach und nach den Speisesaal betraten:
Nein, Spinat gab es gestern.
Nein, gestern gab es Kürbis.
Nein, Kürbis gab es das letzte Mal vor einer Woche.
Nein, Kürbis gab es das letzte Mal vor zwei Wochen.
Spinat. Es war Spinat, den es vor zwei Wochen gab.
Nein, vor zwei Wochen gab es Pastinake.
Nein, Pastinake gab es gestern und vor drei Wochen, nicht aber vor zwei Wochen.
Ach, das gestern waren Pastinaken? Ich dachte, das sei Fenchel gewesen.
Nein, Fenchel gab es bisher noch nie.
Doch, in meiner allerersten Woche gab es Fenchel.
Wirklich? Wann war das?
Das ist schon lange her.

Und so ging es eine Weile weiter hin und her. Die Schlossbewohner liebten es, zu erraten, was es zum Abendessen geben würde. Dabei würde es entweder Spinat oder Kürbis oder Pastinake geben, oder auch Fenchel. Oder etwas völlig anderes – es spielte im Grunde keine Rolle, dachte Roland. Es gab immer etwas anderes, und doch immer dasselbe.

Würde auf dem Schloss je etwas wirklich Neues geschehen?, fragte er sich, als die Schlossbewohnerinnen und -bewohner kurz darauf Steinpilzrisotto löffelten.
Es setzten die üblichen Gespräche ein. Es wurde darüber spekuliert, ob man auf den Zimmern heimlich mit Kameras beobachtet wurde. Jemand stellte die These auf, dass in den Fahrrädern, die man als Bewohner benutzen durfte, um durch den Wald zum Schloss-Außenposten „Flugplatz“ zu gelangen, GPS-Sender verbaut waren. Espinoza Laikanen begann zu erzählen, wie sie einmal in einem Tal der Alpen, auf ihrer Hochzeitsreise vor mehr als zehn Jahren – wobei sie sofort klarstellte, dass sie inzwischen, Gott sei Dank!, geschieden sei – von einem Braunbären angefallen worden sei und ihren nichtsnutzigen inzwischen Ex-Ehemann gerettet habe, indem sie den Bären mit einem Holzruder in die Flucht geschlagen habe.
Die Park-Ranger und das Lokalfernsehen konnten bis zuletzt nicht erklären, wie da mitten in den Bergen ein Holzruder liegen konnte, sprachen die Insassen am Tisch das Ende der Geschichte mit.
Genau, das stimmt, sagte Maria Roxana etwas überrascht.
Habt ihr euch danach auf Zecken untersuchen lassen?, fragte Jonatan Kunz.
Natürlich, versicherte Maria Roxana.
Raya, die in Peru eine berühmte Bildhauerin war, erzählte, dass sie in Peru eine berühmte Bildhauerin sei – ich werde regelmäßig zu Veranstaltungen eingeladen, sagte sie, dabei möchte ich nur in Ruhe gelassen werden, um arbeiten zu können.
Letztes Jahr wurdest du sogar zum Internationalen Kongress der Bildhauerinnen und Bildhauer, IKB, nach Acapulco eingeladen, sagte die Tischgemeinschaft.
Ja, das stimmt, sagte Raya. Woher wisst ihr das?
Auch Roland überlegte, etwas zu erzählen. Am liebsten etwas, das er im Schloss noch nie erzählt hatte.
Doch da meldete sich plötzlich Hagen zu Wort, der junge Pfleger, der in der Maltherapie drüben in den Ateliers hinter der Pferdewiese manchmal Modell stand, aber in Wahrheit die malenden Schlossbewohner im Auge behalten sollte.
Ich habe neulich etwas Interessantes erlebt, sagte er.
Der Tisch hielt kollektiv die Luft an. Roland konnte fühlen, dass sein Herz fester schlug.
Und dann erzählte Hagen von einer unerhört verrückten Begebenheit. Eine gestohlene Avocado, eine Verfolgungsjagd auf einem Fahrrad in seinem Viertel in Berlin, eine Liebesgeschichte, jedoch nicht seine eigene, die sein Leben aber vollkommen verändert habe.
So etwas passiert mir normalerweise nicht, sagte Hagen schüchtern.

Das Essen war zu Ende. Hagen verabschiedete sich – er durfte von Seiten der Schlossleitung nicht allzu lange mit den Schlossbewohnerinnen und -bewohnern Freundschaft schließen. Er stieg zu seinem Zimmer in der Etage für Mitarbeitende hinauf.
Die Zurückbleibenden hatten jetzt etwas zum Nachdenken. Es wurde aus der Küche Wein geholt, jeder goss sich ein Gläschen ein. Und es begann ein sehr langer Abend, der mindestens bis 19 Uhr 30 andauerte. Die Geschichte aus Hagens Viertel in Berlin wurde unter verschiedenen Gesichtspunkten analysiert. Am nächsten Tag würde man sie auch in den künstlerischen Therapien verarbeiten – und zuvor schon in den Träumen. Das Schloss, dachte Roland, ist wie eine Art Prisma, durch das die Welt dort draußen, von der man lange meint, sie existiere gar nicht, plötzlich auf eine völlig unerwartete Weise doch in die Existenz zurückkehrt. Roland wollte hier gar nicht mehr weg.
Hagens Liebesgeschichte erinnert mich daran, wie ich einmal bei einer Notlandung fast gestorben wäre, sagte Jonatan Kunz.
Es war auf dem Flug zu deiner Schwester in Niederösterreich, sagte der Tisch.
Ja, stimmt genau!, sagte Jonatan.
Bevor Roland hinauf auf sein Zimmer stieg, ging er noch einmal hinaus auf die Terrasse und blickte in den Schlosspark. Aus der Schwärze blickten ihn zwei Reihen besonders weiß leuchtender Skulpturen an. Als würde ihn das Schloss anlächeln, nachdem es in Jüterbog bei der Zahnhygiene gewesen war.

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Matthias Nawrat wurde 1979 in Opole/Polen geboren und emigrierte mit seiner Familie Anfang 1989 nach Bamberg in Oberfranken. Er studierte Biologie in Heidelberg und Freiburg im Breisgau, danach literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Er arbeitete als freier Wissenschaftsjournalist. Seit 2012 lebt er als freier Schriftsteller in Berlin. Für seine Bücher erhielt er unter anderem den Literaturpreis der Europäischen Union und den Fontane-Literaturpreis der Stadt Neuruppin und des Landes Brandenburg.

Matthias Nawrat absolvierte in Wiepersdorf den Stipendienaufhalt "Aus der Ferne gesehen - Begegnungen in Brandenburg". Dies ist ein Kooperationsprojekt des Brandenburgischen Literaturrats und des Literarisches Colloquium Berlin. Es findet statt im Rahmen von "Welten verbinden – Kulturland Brandenburg 2024/2025".

 

       

Galit Dahan Carlibach | veröffentlicht am 10.09.2024

Altstadt von Jüterbog © A.Savin, Wikipedia

Von all den Wölfen, Hunden, Schakalen, Schlangen, Rehen und Nachtraubvögeln, die es in Wiepersdorf gibt, zog eine Kreatur unsere Aufmerksamkeit am meisten auf sich und weckte unsere unmittelbare Besorgnis. Es handelte sich um eine bestimmte Zeckenart, und wir wären völlig ahnungslos gewesen, hätte uns nicht eine Berlinerin mit kurzen Haaren auf dieses Problem hingewiesen.

„Ach du meine Güte, was sollen wir jetzt machen?“, fragte Shachar.

„Es muss doch irgendeine Möglichkeit geben, diese Zecke loszuwerden“, sagte ich. „Und überhaupt, warum sollte sich diese Zecke ausgerechnet an uns heften, unter all den Menschen, die hier seit Tausenden von Jahren leben?“

„Es ist sehr schwer, eine Zecke zu bemerken, und dann kann sich eine sehr schlimme Infektion entwickeln“, mischte sich die kurzhaarige Berlinerin in unser Gespräch ein und schickte gleich eine beruhigende Botschaft hinterher: „Aber ich kenne einige Leute, die ganz gut mit einer Nekrose leben.“

„Okay“, sagte mir Shachar im Speisesaal sehr leise auf Hebräisch. „Wir klären diese Sache jetzt sofort. Wo gehst du hin?“

„Ich mache mir einen Tee mit Milch.“

„Du kannst dir doch keinen Tee mit Milch machen, wenn wir vom Aussterben bedroht sind!“

Zum Glück spürte die für unser körperliches und seelisches Wohlbefinden Verantwortliche, dass wir in großer Not waren, und sagte, es gäbe eine Lösung. Ein sehr spezielles deutsches Patent, eine Art ausgeklügeltes Gerät, mit dem man die Zecke im Handumdrehen entfernen kann. Shachar strahlte und ich fragte: „Wo kann man dieses Gerät kaufen?“

„Oh, in Jüterbog, der nächstgelegenen Stadt. Ich bestelle sofort einen Bus für euch.“ Darauf folgte ein Schwall von Anweisungen und Erklärungen: wie man zur Apotheke kommt, in welchem wunderbaren Restaurant man speisen sollte, wo sich die St.-Nikolai-Kirche befindet und natürlich der Supermarkt. Wir bekamen einen Stadtplan, einen Kompass und wurden gewarnt, ja nicht den Bus zu verpassen. Nach einer etwa viertelstündigen Fahrt brummte der Fahrer und zeigte auf das Fenster.

Wir schauten hinaus, und da erblickten wir die Hauptstraße von Kiryat Bialik.

„Vielleicht hat er einen Platten?“ fragte ich.

„Nein, nein“, sagte Shachar, „wir sind in Jüterbog angekommen, na komm schon!“

Wir begriffen direkt, dass Kiryat Bialik eine Metropole wie Moskau ist im Vergleich zu Jüterbog. Innerhalb von drei Minuten besuchten wir alle wichtigen Sehenswürdigkeiten der Stadt – den Supermarkt, ein Bekleidungsgeschäft aus den Achtzigern und eine Würstchenbude. „Ich glaube, es ist Zeit, zur Apotheke zu gehen“, sagte Shachar und blickte auf seine Uhr. „Hoffentlich gibt es dort eine Schlange. Was sollen wir hier sonst machen, bis der Bus um vier kommt?“

Wir waren die einzigen in der Apotheke. Zwei freundliche Damen stürzten sich auf uns – natürlich mit deutscher Höflichkeit. Auch sie sprachen kein Englisch, aber Shachar und ich hatten mittlerweile eine ausgefeilte Mimik und Gestik entwickelt. Wir zeigten, zwinkerten, formten unsere Lippen, flatterten mit den Wimpern. Währenddessen ging eine der Apothekerinnen nach hinten, und mit meinen eigenen Ohren hörte ich das Wort „Polizei“.

„Google Translate“, flüsterte mir Shachar zu. „Schnell, bevor sie uns ins Gefängnis von Wilhelm dem Zweiten stecken.“

Wir zeigten der Apothekerin das Handy. „Ja, ja, Zecke.“ Die zweite Apothekerin verzichtete auf den Anruf bei der Polizei. Beide begannen, einige Schubladen zu öffnen.

„Oh, ich hoffe, wir haben genug Platz für das Gerät“, sagte Shachar und machte seinen 23-Kilogramm-Koffer weit auf.

Die Apothekerinnen kamen zurück und präsentierten uns eine geschlossene Faust.

„Was ist das?“ riefen wir gleichzeitig.

„Ich glaub’s nicht“, sagte Shachar.

„Da gibt’s bestimmt ein Patent drauf, das kannst du nicht kopieren“, warnte ich. „Wie schön. Ein Meisterwerk des preußischen Reichs!“

„Gibt es ein Problem?“ fragte die Apothekerin betrübt und blickte zu ihrer Kollegin.

„Nein, nein, alles gut“, sagte ich mit letzter Kraft und schaute Shachar an. „Na, jetzt zahlst du für diesen Unsinn, ich habe davon Millionen im Zimmer.“

Shachar holte sein Portemonnaie hervor und zahlte, dann steckte er die Pinzette in den riesigen Koffer. Die beiden Apothekerinnen tauschten Blicke aus und warteten darauf, dass wir endlich gingen, damit sie sich vor Lachen ausschütten und über uns tratschen konnten. Inzwischen hatten alle Bewohner von Jüterbog die Warnung erhalten, in ihren Häusern zu bleiben: „Achtung: Zwei Fremde ziehen durch unsere Hauptstadt und schleppen einen riesigen Koffer mit sich, in dem sich ein ausgeklügeltes Zeckenentfernungsgerät versteckt.“

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Galit Dahan Carlibach ist in Sderot, Ashdod und Jerusalem geboren und aufgewachsen. Sie veröffentlichte acht Bücher (darunter Romane, Novellen und Fantasy für junge Leser*innen). Ihr neuester Roman "Under The Sign Of Orphan" soll 2025 auf Deutsch im Verlag Kein & Aber erscheinen. Dahan Carlibach ist Dozentin der Schreibkurse an der Bar Ilan Universität. Sie lebt in Jerusalem und ist Mutter von zwei Kindern.