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Adrian Kleinlosen im Gespräch mit Karin Wetzel
Polytemporalität in der Musik
Im Rahmen des virtuellen Residenzprogramms 2020 führten der Komponist und Musiktheoretiker Adrian Kleinlosen und die Komponistin Karin Wetzel ein Gespräch über das Phänomen der »Polytemporalität« in der Musik.
Adrian Kleinlosen (AK): Liebe Karin, Du hast promoviert zum Thema des Polywerkes im 20. und 21. Jahrhundert, also zu jenem musikalischen Phänomen, das die simultane Aufführung mindestens zweier Werke bezeichnet. So wie ich den Begriff verstehe, ist die bloße Gleichzeitigkeit mehrerer Werke aber nicht hinreichend. Vielmehr müssten die Werke bereits so konzipiert werden, dass sie nur mit ganz bestimmten Werken aufgeführt werden können – eben jenen Werken, mit denen sie, qua präkompositorischer Konstruktion, strukturelle Schnittstellen ausbildeten. Die gleichzeitige Aufführung einer Beethovenschen Klaviersonate und eines Stückes Billie Eilishs dürfte wohl kaum als Polywerk im emphatischen Sinne bezeichnet werden.
Karin Wetzel (KW): Das sehe ich genauso. Die gleichzeitige Aufführung beider Stücke wäre eher als eine Simultanaufführung im Sinne von John Cage anzusehen. Das Poly-Werk setzt im präkompositorischen Prozess an. Einerseits verfolgt es den Anspruch, einzelne Werkstränge zu finalisieren, damit sie auch eigenständig aufführbar sind und andererseits sollen diese offen genug füreinander sein, um etwas Gemeinsames zu formen. Das kann den Kompositionsvorgang natürlich sehr komplex machen. In meiner Dissertation habe ich diesen Prozess auch thematisiert. Ich fand es spannend, von den KomponistInnen zu erfahren, ob sie ihre Poly-Werke simultan oder sukzessiv komponiert haben oder ob es sich um eine Mischung aus beiden Kompositionsprozessen handelt.
Hast Du selbst schon ein Polystück geschrieben oder daran gedacht? Und wenn ja, wie hat sich der Kompositionsprozess gestaltet oder wie würdest Du herangehen?
AK: Nein, ein Polywerk habe ich weder komponiert noch konzipiert. Das hat verschiedene Gründe, deren primärer schlichtweg darin liegt, dass ich sehr lange an meinen Werken arbeite. An meinem neuesten – das 14 Minuten dauern wird – arbeite ich bereits seit gut zweieinhalb Jahren. Für ein Polywerk bräuchte ich dann wohl ein paar Jahrhunderte, was meine Lebenserwartung leider übersteigt. Womit ich mich allerdings seit geraumer Zeit befasse, ist die Gleichzeitigkeit mehrerer, in sich bereits sehr komplizierter rhythmischer Stränge.
Womit wir bei dem Thema wären, über das ich gern mit Dir sprechen möchte: dem Phänomen der »Polytemporalität« in der Musik. Vorerst möchte ich Polytemporalität definieren als die Simultaneität mindestens zweier Tempi. Doch so wie mit dem Begriff der Polyphonie nicht allein das Vorhandensein mehrerer Stimmen, sondern das Vorhandensein mehrerer eigenständiger Stimmen gemeint ist, so wäre der Begriff der Polytemporalität nur lückenhaft umschrieben, fügte man nicht hinzu, dass auch die Tempi gewissermaßen eigenständig sein müssten. Solch Eigenständigkeit wiederum zeigt sich m. E. in den Verhältnissen zwischen den Tempi, die einen gewissen Grad an Komplexität aufweisen müssten — Tempi, die in den Verhältnissen 2:1, 4:1, 8:1 etc. zueinander stünden, erfüllten also die Forderung nach Eigenständigkeit nicht. Wie würdest Du »Polytemporalität« definieren?
KW: Ich denke, man sollte zwischen Polytempo und Polytemporalität noch einmal unterscheiden, bzw. den Begriff der Polytemporalität weiter fassen als das reine Zahlenverhältnis der Tempi. Denn die zeitliche Gestaltung eines Stückes umfasst ja mehr als eine Tempoangabe. Auch das Metrum, der Rhythmus, auch der formale Rhythmus und die Ereignisdramaturgie spielen hinein. All das greift ineinander, um den temporalen Charakter eines Stückes zu bilden. Und dieses Ineinandergreifen der verschiedenen Komponenten führt dann zu einer spezifischen »Temporalität«. Auch wenn die Tempoverhältnisse in einem einfachen Verhältnis zueinander stehen oder sogar identisch sind, kann die Temporalität eine andere sein. Denn vielleicht ist die Metrik gegeneinander versetzt und/oder die rhythmische Gestaltung weicht stark voneinander ab. Rein rechnerisch sind die metrischen Schnittpunkte der verschiedenen Tempi in den einfachen Verhältnissen natürlich sehr vorhersehbar und häufig. Wahrscheinlich lässt sich ein gemeinsamer Grundpuls identifizieren, der natürlich auch etwas Vereinheitlichendes hat. Je unterschiedlicher und loser sich die Tempi zueinander verhalten, desto interessanter werden die metrischen Schnittpunkte und die Frage, wie man mit ihnen umgeht. Ignoriert man sie, oder haben sie formale Konsequenzen? Und an dieser Stelle wird es natürlich auch für das Poly-Werk interessant, denn wenn eine temporale Spannung zwischen den simultanisierten Werksträngen existiert und das Verhältnis der Werke eher in Richtung Nichtsynchronisation tendiert, dann kann eine ganz besondere Dynamik entstehen. Wie siehst Du das?
AK: Deine Unterscheidung von Polytempo und Polytemporalität leuchtet mir ein und ich möchte mich ihr anschließen. Wenn ich einen Vorschlag machen darf: Ich würde den Begriff des Polytempos durch »Polytempik« ersetzen. Denn während »Polytempo« eher auf das konkrete Ereignis deutet, bezeichnete »Polytempik« das Phänomen als solches. Denken wir nur an die Unterscheidung von Rhythmus und Rhythmik, Harmonie und Harmonik, usw.
KW: Das ist sicher sinnvoll.
AK: Wie aber steht es um Werke, in denen verschiedene Tempi sukzessiv aufeinander folgen? Dürfte man Deines Erachtens in solchen Fällen von Polytempik sprechen? Oder böte sich gar ein anderer Begriff für solcherart Fälle an?
KW: Dann sind es Tempowechsel. Der Reiz der Simultaneität liegt im Aufeinanderprallen des Verschiedenen im gleichen Zeitraum und stellt auch ein Gegenmodell zu einer rein sukzessiven und linearen Entwicklung und Abfolge dar. Das Heterogene kann so gleichzeitig erfahrbar gemacht und miteinander verknüpft werden. Vor allem ist die Spannung, die zwischen den verschiedenen Strängen erzeugt wird, unmittelbar wahrnehmbar.
AK: Kommen wir nun zu einigen Beispielen von Polytemporalität in alter und neuer Musik. Die Oper »Die Soldaten« von Bernd Alois Zimmermann drängt sich mir als exemplarisches Beispiel geradezu auf, besonders in ihrer ersten Fassung, in der Zimmermann sieben eigene Temposchichten ausarbeitete, deren fünf er mitunter einander überlagerte. Auch an die »Studies for Player Piano« von Conlon Nancarrow denke ich; bereits in der zweiten dieser seiner 49 Etüden für Selbstspielklavier spielen die zwei Stimmen in einem Geschwindigkeitsverhältnis von 3:5. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zur Elektroakustischen Musik, deren Möglichkeiten schier unbegrenzt scheinen: Einem Orchester deucht die Überlagerung sieben verschiedener Tempi schlichtweg undurchführbar; mit einem Computer hingegen wird die Überlagerung hunderter verschiedener Tempi zu einer Banalität.
Und was möglich ist, wird auch gemacht: In meinem Werk »mv1:i« für Fagott, Klavier und Elektronik steht jede Stimme — die in sich bereits polyphon organisiert ist — in einem eigenen Tempo. Alsdann werden diese Stimmen einander überlagert: Der Fagottist hat bis zu drei simultane Stimmen zu bewältigen, der Pianist bis zu vier, der elektronische Teil besteht aus bis zu sechs eigenen Stimmen.
Welche Werke aber kommen Dir in den Sinn, wenn Du an das Phänomen der musikalischen Polytemporalität denkst? Und wie steht es um Deine eigene kompositorische Arbeit: Finden sich in Deinen Werken Stellen polytemporalen Gepräges?
KW: Ein sehr interessantes Beispiel für das Zusammenwirken von Polytempik und Poly-Werk ist für mich der Anea Crystal Cycle für zwei Streichquartette von Chaya Czernowin. Dem ersten Quartett, das in einfachen Brüchen notiert ist, ist das andere Quartett in einer komplizierteren Doppelbruchnotation gegenübergestellt. Dazu kommen dann noch unterschiedliche Tempi, die auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten wechseln. Die Unabhängigkeit der Quartette konstituiert sich sowohl auf der Materialebene und noch mehr auf der zeitlich-organisatorischen Ebene. Dies verschärft den autonomen Charakter der einzelnen Werkstränge.
Ich selbst habe ein Poly-Werk für Geige mit dem Titel Dividuum komponiert. Es handelt sich um eine freie Zusammensetzung aus zwei voneinander unabhängig aufführbaren Solostücken, die sich zu einem dritten Solostück verbinden. Die zwei zugrundeliegenden Solostücke haben unterschiedliche Tempi. Das ist natürlich vor allem eine konzeptuelle Idee. Es geht mir um die Frage, ob und wie verschiedene Zeitschienen auch von einem Einzelnen aufführbar sind. Im heutigen Leben ist man immer wieder mit der Frage konfrontiert: Wie bekommt man das vermeintlich Unvereinbare unterschiedlicher Zeitforderungen unter einen Hut. Dem muss man sich dann auch stellen und es klappt mal mehr, mal weniger gut. Diese Symbiose der beiden Solostücke zu einem dritten Solostück wird also nie 100% + 100 % sein. Vielleicht wird sie nur 40% + 82 % sein. Das Resultat ist immer unperfekt, aber es spiegelt für mich diese schwierige Gratwanderung der Vereinbarkeit verschiedener Dinge, ein Phänomen das so allgegenwärtig ist.
AK: Zuletzt möchte ich die Frage stellen, ob das Phänomen der Polytemporalität in der Europäischen Kunstmusik erstmalig im 20. Jahrhundert zutage tritt oder ob es sich bereits in Werken früherer Epochen findet.
Ich neige zu Ersterem. Denn waren nicht selbst die in mitunter komplexen numerischen Verhältnissen zueinander stehenden Stimmen der Ars Subtilior, für die Johannes Ciconias dreistimmiger Kanon »Le ray au soleyl« an dieser Stelle beispielhaft stehen mag, stets einem übergeordneten Tempo subsumiert? Sollte man hier nicht vielmehr von »Polymetrik« als von Polytemporalität sprechen? Und, so wäre weiter zu fragen, gölte solch Zuschreibung nicht auch für den Großteil der Neuen Musik, so dass man obige Annahme verdichten müsste zu folgender Behauptung: Musikalische Polytemporalität ist ein Phänomen, das seit seinem erstmaligen Auftreten innerhalb der Europäischen Kunstmusik im 20. Jahrhundert nur sehr wenigen Kompositionen eignet.
Nehmen wir als Beispiel das Werk Brian Ferneyhoughs. Ist seine Musik polytemporal? Ich würde sagen: nein. Denn so kompliziert die einzelnen Stimmen auch gestaltet sein mögen, sie treffen immer wieder in gemeinsamen Schwerpunkten zusammen, sind also nicht polymetrisch organisiert. Auch sind Tempo und Taktarten für alle Stimmen gleich; wir können die Musik Ferneyhoughs also weder »polytempisch« noch »polytaktisch« nennen. Schließlich verweisen die das Ferneyhoughsche Notenbild prägenden n-Tolen — d. s. meist durch in Klammern gesetzte numerische Verhältnisse wie 8:7 oder 11:8 — immer auf den Grundschlag. »Polypulsisch« ist die Musik Ferneyhoughs also auch nicht. Was bleibt? Eine Überlagerung vieler verschiedener Rhythmen: Die Musik Ferneyhoughs ist polyrhythmisch.
KW: Mitunter ist es auch eine Frage der Notation und aufführungspraktischer Erwägungen, welcher zeitliche Parameter ausdifferenziert wird. Polytempik und Polyrhythmik können bisweilen ineinander übertragbar sein. Was ist am Ende praktikabler? Eine feingliedrige rhythmische Gestaltung, die auf einem gemeinsamen Grundschlag beruht oder die Synchronisation verschiedener Tempi? Auch Polytempi notationell auf das Papier zu bringen ist anspruchsvoll. Mittlerweile gibt es ein Programm[1], das bei den notationellen und aufführungspraktischen Schwierigkeiten hilfreich sein kann.
AK: Und hier zeigt sich einmal mehr, wie sehr die Umsetzung eines Konzeptes abhängig ist von der Entwicklung technischen Equipments. Sind bislang nur sehr wenige Instrumental- und Vokalwerke polytemporal organisiert — was sich fraglos auch aus dem exorbitanten Aufwand für Komponisten und Interpreten erklären lässt —, so könnte sich dies, dank solcher Programme, in absehbarer Zeit ändern.
KW: Das könnte sein. Einerseits vereinfachen sie bestimmte Kompositionsprozesse und machen sie effizient. Andererseits sollte die Effizienz nicht dazu führen, dass sich der eigentliche Spannungszustand zwischen den verschiedenen Zeitsträngen neutralisiert. Für mich liegt der Reiz im Aufrechterhalten dieses temporalen Spannungszustandes.
[1] Siehe The Polytempo Network und The Polytempo Composer von Philippe Kocher, https://polytempo.zhdk.ch/.